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Gaston Chaissac

29.04.2023 - 04.06.2023
Berlin
Gaston Chaissac

Der Maler-Dichter und Zeichner Gaston Chaissac (1910–1964) übersprang in seinem künstlerischen Werdegang die Phase akademischer oder autodidaktischer Ausbildung und Suche. Sein Einstieg in die bildende Kunst 1936/37 in Paris mutet wie eine jener Konstellationen des Zufalls an, die der Surrealismus besingt. Er kam als Tagelöhner in die Metropole der modernen Kunst und verließ diese wenige Monate später ihr „Meister“. Dieses Zertifikat stellte ihm Otto Freundlich aus, der im Hinterhof des gleichen Haus seine Akademie „Le Mur“ eingerichtet hatte, in dem auch Chaissac für kurze Zeit wohnte. Vom Land und aus bildungsfernem Milieu stammend, lag dem 27-Jährigen das, wonach in Paris alle Künstler suchten, gleichsam im Blut: die zeitgenössische Universalformel für das Bild. Was die Malerei betrifft, arbeitete Chaissac diese farbige Bildformel in den folgenden fast drei Jahrzehnten unbeirrt zur Behauptung aus.

Und damit unterwanderte er jede Kategorie des Pariser Kunstbetriebs. Schulen, Ismen, Avantgarden – sämtliche proklamierten Ziele einer Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst ließ die klare, einfache Formel von Chaissac als Gelehrtenmalerei zurück. Die Reaktionen waren entsprechend heftig. Die Abwehr- und Vereinnahmungsversuche gegenüber Chaissac bilden ein eigenes Kapitel der Kunstgeschichte. Chaissacs Bildformel balanciert die künstlichen Gegensätze von Abstraktion und Gegenständlichkeit, von Formalismus und Figuration derart elastisch aus, dass Freundlich den jüngeren sogleich noch vom „Meister“ zum „Hexenmeister“ beförderte: „Sorcier Chaissac“. Genauso trifft die Bezeichnung „un Klee spontané“ von Jean Paulhan zu. Denn Chaissacs Bilder wirken wie Dauereintrittsbillets zu Paul Klees unvollendet gebliebenem „Zwischenreich“.

Obgleich Chaissacs Oeuvre seit den 1970er Jahren in allen Bereichen erschlossen worden ist – der Malerei, der bemalten Skulptur, der Zeichnung, der Dichtkunst, die zugleich Briefkunst ist, gibt es dennoch keinen positiven Begriff für seine Bildformel. Allzu attraktiv wirkte sich Chaissacs Defensivstrategie aus, die einer notorischen Tiefstapelei gleicht. Dabei ist die Ironie, mit der er die Vorurteile gegenüber seiner Herkunft ins Image seiner Künstlerpersona einwob, kaum zu überhören. Bedauerte er rhetorisch hin und wieder seine Berufung zur bildenden Kunst (als er einsah, in welches Hornissennest er sich mit dem umkämpften Pariser Kunstbetrieb gesetzt hatte), so hielt er diesem so den Spiegel vor. Im Künstlertypus des Clochards, eines provinziellen Landstreichers, mit dem man sich im Café lieber nicht blicken lässt, und in der Selbstdarstellung als „poète rustique“ verschleierte er seine Kunst mit eben jenem Klischee, das ihn aus Paris verbannte.

Chaissac schürfte noch einmal den Urgrund des Bildes auf. Doch anstatt dafür wie die Avantgarden das Archaische zu bemühen oder irgendeine Theorie, aktivierte er das Potenzial seiner Heimatregion. Sein Fehler war gleichsam, dass diese nicht Tahiti oder die Osterinseln, Byzanz oder der Weltraum war, sondern die französische Provinz. Die „Bocage“ ist das kulturlandschaftliche Gegenbild zu Paris als Metropole der Moderne. Auch wenn in einigen seiner Zeichnungen das Keltische durchschlägt, geht dieser Bezug auf die Heimatregion nicht auf ein historistisches Stilkriterium hinaus. Vielmehr wurzelt in der Bocage ein funktionales Bildkriterium, das über die romanische Bauskulptur bis hinab zur Höhlenmalerei reicht, über die Chaissac früh Kenntnisse sammelte. Er brauchte die romantischen Kunsttheorien und deren Folgen gar nicht zu kennen, um darauf zu stoßen, dass das Bild eine Lebensform, ein beseelter Gegenstand sei. Chaissac identifiziert das Gemälde als Organismus und entblößt diesen in seiner variablen Bildformel.

Diese Verleiblichung des Bildes – und oft genug blickt uns ein Gesicht aus Chaissacs Gemälden, Zeichnungen, sogar aus seinen Briefdichtungen an – war das Drastische, nahezu Blasphemische seines Beitrags zur Pariser Kunstszene. Chaissac hütete die magische Quelle des Bildes, und wer dort ebenfalls hinwollte, musste an ihm vorbei. Nicht nur im Märchen kommt diese Aufgabe verwegenen Helden aus der Ferne zu. Während in Frankreich die heutige Malergeneration aus historischer Distanz aus dieser Quelle ungehindert schöpft, wurde diese für Maler aus Deutschland noch viel früher zur Legende. Denn in Deutschland waren alle ähnlich Bewanderten vertrieben, gebrochen, oder, wie Freundlich, sogar umgebracht worden. Als sich die Maler Eugen Schönebeck und Georg Baselitz Anfang der 1960er-Jahre in Paris auf die Suche nach Vorbildern begaben, um ihre eigene Unterwanderung westlicher Abstraktion und östlicher Figuration zu legitimieren, stießen sie auf Chaissac. Die Gemälde, die Baselitz dann berühmt machten, schreiben Chaissacs Bildformel fort. Und erst heute, nämlich dadurch, dass sowohl die französische wie auch die deutsche Theorie die Lebensform Bild auch zu begründen versteht, kann das Werk Chaissacs endlich als das gewürdigt werden, was es darstellt: als Gründungsstatuten eines heiteren Bildkults, der jedes Weltuntergangsszenario überspielt.

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